Die Bruderkette — Werkzeug einer sittlichen Lebensführung

Axel Schönhals

11. April 2024

Foto: Szilárd Szabó / pixabay.com

Als Bruder Freimaurer erleben wir, wie es ist, wenn man mit anderen in gelingender Weise verbunden ist, welch tiefe Befriedigung das bedeuten kann.

Wir sprechen dann symbolisch vom Stehen in der Bruder-Kette und bekräftigen die außerordentliche Innigkeit vor jedem Trennen unserer in der Realität fest ineinander verschlungenen Hände mit dem Hinweis: „Wir trennen die Kette der Hände, die Kette der Herzen bleibt!“ Die persönliche Nähe der Brüder in einer Freimaurerloge schafft eine besondere Öffnung zueinander. Der freimaurerisch junge Bruder wird dazu bereits im Aufnahmeritual vom Meister vom Stuhl aufgefordert, eine in diese Richtung wirkende Voraussetzung für alles Folgende zu schaffen. Ich zitiere: „Öffnen Sie weit Ihr Herz und vernehmen Sie das Wort, das Sie in die Mitte des Tempels führt: Erkenne Dich selbst!“

Im ersten Buch der Könige des Alten Testaments der Bibel wird berichtet, dass Gott dem jungen König Salomon bei dessen Regierungsantritt im Traum erscheint und ihm eröffnet, dass er einen Wunsch freihabe. Salomo wünscht sich überraschenderweise „ein hörendes Herz“. Gott gewährt ihm diesen Wunsch und erklärt auch, warum: Er hat nicht um langes Leben gebeten, nicht um den Tod seiner Feinde, nicht um Reichtum, sondern nur darum, den anderen gut hören zu können.

Das Zuhören mit dem gesamten Herzen ist jedoch Schwerstarbeit. Es erfordert die Bereitschaft, auch dem anderen einen Beitrag und Kompetenz zuzugestehen, sowie die Bereitwilligkeit, etwas dazuzulernen. Allein schon deshalb, weil die Zeit nicht stehen bleibt, sondern sich alles im Fluss befindet und dauernder Veränderung unterworfen ist.

Gutes Zuhören bedeutet, sich dem Gegenüber zuzuwenden mit der ganzen Aufmerksamkeit, die uns zur Verfügung steht. Es verbietet sich, dabei zu bewerten, was der andere sagt. Wir müssen mit Aggressionen rechnen, wo das Gefühl vorherrscht, nicht wirklich gehört zu werden. Wichtig ist auch, immer wieder innezuhalten und nachklingen zu lassen, was man gehört hat. Wo kein Resonanzraum ist, wird man taub für die vielen kleinen und versteckten Signale im Laufe eines Tages. Genau das ist es, was wir als Gesellschaft und als Einzelne benötigen, um ein gelingendes Zusammenleben zu schaffen.

Das hörende Herz fragt nicht nur nach dem Gehörten, sondern auch danach, was es in mir auslöst und sogar, was es für den Anderen bedeutet. Es ist eine Gabe des Geistes, dem nachzugehen, was mein Leben berührt und wo etwas in mir angestoßen wird oder mich etwas bewegt, was in mir etwas über mich selbst sagt, weil dort mein Leben zentral ins Spiel gebracht wird.

Wenn eine Gesellschaft sich permanent steigern, beschleunigen, sich vorantreiben muss, aber den Sinn der Vorwärtsbewegung verliert, hat sie den Sinn für die Bewegung im Allgemeinen verloren und befindet sich in einer grundsätzlichen Krise. Für deren Bewältigung hat die Freimaurerei etwas anzubieten. Einer Gesellschaft, die dringend nach einer alternativen Form des In-der-Welt-Seins sucht. Dazu benötigt sie Traditionen, Praktiken, Gedankengebäude, Überzeugungen, Riten. Sie alle könnten helfen, das herauszufinden. Weiterhin mangelt es der Gesellschaft, um die genannten Ziele zu erreichen an offenen, hörenden Herzen.
Die Wirklichkeit unseres profanen Alltags lässt uns häufig genug das genaue Gegenteil erleben. Die Soziologie hat dafür einen Begriff formuliert, den der Entfremdung.

Mit diesem Phänomen haben sich Philosophen unterschiedlicher Epochen beschäftigt, wie Hegel, Feuerbach, Marx und Benjamin.
Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770) hat das Entfremdungsproblem eher ironisch aufgegriffen. Er nahm den Weg über das von ihm postulierte Theodizee Problem. Daraus ableitend schreibt der Philosoph allen moralisch ethischen Systemen, wie auch der Kunst und der Religion, einen besonderen Wert zu. Nicht alle Menschen sind Philosophen oder Theologen. Sie unternehmen trotzdem hartnäckig den Versuch, ihr Selbst zu thematisieren und die Ergebnisse in ihrem sozialen Selbstbild aktiv einzusetzen, um die Möglichkeiten eines tätigen Miteinanders auszuloten und ein Zueinander im Sinn eines Gemeinwohls zu schaffen. Der Zeitgeist macht diese Bemühungen zunichte. Die Egozentrik verbunden mit einer ausgeprägten sozialen Kälte lässt eine Entfremdung entstehen, die als Ideal der zurzeit geltenden Unabhängigkeit des Einzelnen propagiert wird.

Walter Benjamin, deutscher Philosoph der Frankfurter Schule, geboren 1892 in Berlin, hielt Motive religiösen Denkens in säkularer Form für wichtig, um die Idee einer befreiten Gesellschaft zu ermessen. Seine „geschichtsphilosophischen Thesen“ zeichnen das Bild einer Menschheitsgeschichte, die von Unterdrückern, Siegern und Herrschenden bestimmt wird, nie jedoch von den Unterdrückten. Die Opfer von Gewalt und Unterdrückung sollen mit der Hoffnung auf ein Paradies, eine Erlösung aufgerichtet werden. Die Wirklichkeit der Herrschaftsgeschichte benötigt somit eine andere Geschichte, eine Art Auferstehung. In ihr kommen jene vor, die in der Geschichte der Herrschenden nicht vorkommen. Erst so kann es eine mit sich versöhnte Gesellschaft geben. Das Denken einer vernünftigen Praxis hatte immer einen verborgenen Bezug zur Religion. Ob wir an Gott glauben oder nicht, es ist wichtig, dass der befreiende Gehalt religiöser Ideen, auch wenn er, wie gezeigt, erst in einer Religionskritik sichtbar wird, nicht verloren geht. Demokratie verkümmert, wenn sie ausschließlich als eine Ansammlung von Verfahren zur Herrschaftslegitimation begriffen wird. Es geht immer um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Eine Realität, die sich weit von demokratischen Ideen einer Gemeinschaft von Freien und Gleichen entfernt, die eine vernunftbedingte Auseinandersetzung um ein gemeinsames Wohl scheut, entfremdet uns allem, was uns freimaurerische Einübungsethik vermitteln will. Wenn man ein gerechteres Land will, einen humanitären Umgang mit allen pflegt, die auch hier leben, dann muss man den Willen, die Kraft und auch den Mut haben, sich bedarfsweise mit den Mächtigen anzulegen.

Trotz aller Fragwürdigkeit sind zurzeit nur die Weltanschauungen in der Lage, grundlegende Moral- und Wertevorstellungen allgemein verbindlich zu vermitteln. Der Wirkungsgrad der dafür zur Verfügung stehenden gesellschaftlichen Kräfte ist unterschiedlich. Die Linke hat diesen Anspruch nach dem Scheitern des real existierenden Sozialismus für längere Zeit verwirkt. Die Konservativen ordnen Wertvorstellungen nicht selten dem Funktionieren der kapitalistischen Wirtschaft und deren Erfordernissen unter. Der Markt selbst ist nicht in der Lage, Moral und Wertvorstellungen hervorzubringen.

Achtung der Menschenwürde, Solidarität, Barmherzigkeit werden durch tägliches beispielhaftes Tun der Brüder Freimaurer sowohl bei der Arbeit an sich selbst, als auch bei der gemeinsamen Arbeit an dem großen Bau der Humanität zum Gemeingut gemacht. Den geschilderten Entfremdungstendenzen der realen gesellschaftlichen Praxis wird umfänglich versucht entgegenzuwirken.

Herrschende Verhältnisse verlassen sich allzu oft darauf, dass engagierte Menschen die großen Lücken füllen, die sie selbst in unser soziales Netz reißen. Das solidarische Engagement der Vielen, gleich mit welchem Hintergrund sie es leisten, macht es noch wichtiger und ist Auftrag an uns alle, dafür zu sorgen, dass sich Politik und Gesellschaft so verändern, dass Entfremdung nicht weiter zu deren prägendem Wesenskern wird.

Wir als Brüder Freimaurer hätten die Konzepte dazu. Vor einer Klärung der Gründe und Umstände, warum die Hörenden uns nicht hören und die mit einem offenen Herzen uns sich nicht anvertrauen, bleiben wir, jeder einzelne Maurer, ohne Wirkung und Nachhaltigkeit. Rauer Stein, gemeinsam auf dem Baugerüst und Arbeit am Tempel der Humanität benötigen ein Überdenken und eine zeitgemäße Positionierung aller Menschen mit einem Schurz!

3 Antworten

  1. Herzlichen Dank für dieses tiefsinnige, ausführliche Baustück. Die Situation in den Logen, die von Harmonie erfüllt sind, ist stimmig. Die Forderung, die freimaurerischen Werte in die Gesellschaft zu tragen, überfordert die Logen und das ist auch bisher nicht deren Auftrag. Hier ist der Wunsch der Vater des Gedanken.
    Vielleicht kommt die Zeit noch, in der wir in die Gesellschaft wirken können.

    1. Freimaurerei wie eine Monstranz vor mir herzutragen – das ist absolut nicht mein Ding! Die Absicht, andere zu missionieren, schreckt mich ab, und deswegen fällt mir so etwas wie “Öffentlichkeitsarbeit” auch richtig, richtig schwer. Ich selber möchte nicht missioniert werden, ich möchte aus eigenem Antrieb Erkenntnisse gewinnen und daraus meine Schlüsse ziehen. Und genau dafür brauche ich ein “hörendes Herz”. Unsere Welt wird immer lauter, Social Media dröhnt uns voll und macht uns taub. Unbeirrt vom Lärm der Welt geht der Maurer seinen Weg – das ist es, was ich versuche. Mein Handeln soll mich als Freimaurer ausweisen, das ist mein Ziel – und auf dem Weg dorthin zählt für mich jeder einzelne Schritt, auch der kleinste! Und wenn ein Schritt mal in die verkehrte Richtung führt: hören, erkennen, Kompass justieren, Ziel neu aufnehmen und weiter gehen 😉

      1. Ich bin da bei Dir, was Dich vielleicht irritieren wird. Denn ich bin ein großer Verfechter der Öffentlichkeitsarbeit. Doch auch hier gilt Maß und Mitte. Wenn ich sehe, wie viele Freimaurer und Logen, besonders auf Social Media, Freimaurerromantik und esoterischen Kitsch sowie teils sehr interne Einblicke präsentieren, erinnert mich das ausgesprochen an die schwülstige Symbolsprache der Kirchen, insbesondere der katholischen. Das trägt einen erheblichen Drang zur freimaurerischen Missionierung in sich. Öffentlichkeitsarbeit informiert und bringt das Thema ins Bewusstsein, mehr darf und soll dabei nicht passieren. Wir wollen „freie Männer“, dann sollen wir sie auch frei informieren und unsere Gedankenwelt nahebringen.

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