Brücke ohne Anschluss

Wojtek Flückiger-Sperl

24. November 2025

Abbildung: GreensandBlues / envato.com

Unfrisierte Gedanken über den Alltag einer Idee

Man schwimmt bis an die Quelle immer gegen den Strom, mit dem Strom schwimmt Abfall…

An sich könnte man die Anforderungen kurz fassen: Sei aktiv.

Aber was heißt es, sei aktiv als Freimaurer? Beteilige dich am Vereinsleben? Beteilige dich am Leben der Gesellschaft als Freimaurer? Als Mitglied des Vereins bringe ich mich dort ein, wo meine tätige Hilfe erwartet oder verlangt wird. Was bringe ich als Freimaurer der Gesellschaft, das sie bislang nicht hat oder woran es mangeln würde und was über die Pflichten eines Bürgers hinausgeht? Was kann die Freimaurerei der Gesellschaft noch geben? Es ist, wie mit einem Geburtstagskind, das alles hat und dem etwas zu schenken, als überflüssig erscheint. Überflüssig? Sind die freimaurerischen Ideale überflüssig? Es mag für die Gesellschaft gelten, für den Einzelnen eher nicht. Viele, fast alle Forderungen der Freimaurerei wurden erfüllt, in Gesetze umgewandelt, sind Alltag der Gesellschaft geworden. Und dies so sehr, dass sie sich dem Einzelnen und sich selbst entfremdet, entstellt und sinnentleert haben.

Also, was bleibt: aktiv werden!

Unsere Väter im Gründungsenthusiasmus bedienten sich vieler Symbole, bildlicher Metapher. Sie durchstöberten Rumpelkammern aller damaligen Religionen, Ikonographien, Überlieferungen und Traditionen. Aber sie haben nicht damit gerechnet, dass sich diese Metaphern abnutzen, entleeren und stumpf werden, wie die Küchenmesser meiner Mutter. Die Gäste in „Gans und Rost“ wollten zwar, dass die Lehren der Symbole unter das Volk gelangen und ihre aufklärerische Arbeit verrichten. Mehr noch, sie wollten die entzweienden Religionen an einen Tisch bringen – was auch für eine Weile gelang. Aber man ahnte damals die Massenmedien und ihre bleichende Wirkung auf den Verstand noch nicht. Wenn man in die freimaurerischen Kolonnen die Frage nach den Anfängen der Freimaurerei wirft, hallt es mit 1717 und der Gründung der Großloge von London zurück. Viele fügen noch den journalistischen Humbug von Baigent/Light und Knight/Lomas hinzu. Und es wundert nicht, denn einigen verleiht die Teilnahme an einem „geheimen“ und womöglich mittelalterlich und ritterlich unterfütterten Bund einen Adelsschlag und erlaubt, an langen Winterabenden zu träumen – von Kreuzzügen, Ritterorden, Lagerfeuern in der Wüste und den Huris in den himmlischen, blühenden Oasen, wie von einem Urlaub auf Mallorca. Die Halbstarken-Sehnsucht nach Abenteuer wird bedient und befriedigt. Heutzutage dringt mehr von der Straße in die Loge hinein, als von der Loge mit nach draußen genommen wird. Die Fragen: Woher kommt die Freimaurerei, was war und ist mit dem einen Symbol oder jenem Ritus wohl gemeint? werden durch Floskeln aus der Yellow Press gestillt. Überhaupt ist es in der heutigen Zeit, des bis in die Heuchelei uneingeschränkt freien Denkens, für das freimaurerische Proletariat schwer vorstellbar, dass einst das unabhängige Denken und die Treue zu eigenen Überzeugungen, obwohl weiter- und weltbildend, unter Umständen mit der Feuerstrafe belegt waren. Es hat sich auch eingebürgert, die historischen Vorgänge, ungeachtet damaliger Zustände, aus der heutigen Sicht zu interpretieren und zu beurteilen. In den Logen wird lieber über das Gassigehen mit den Dackeln diskutiert, als über Ramsays Versuch, das ritterliche Ammenmärchen in die Herkunftslegende der Freimaurer zu etablieren (zur Erinnerung – in seiner berühmten Rede von 1737 versuchte Ramsay die Johanniter als Freimaurerväter zu installieren; als das Vorhaben misslang, weil Johanniter damals wie heute immer noch existent waren, wechselte er zu längst ausgestorbenen Templerorden, was auch dank deren Verbindung zum Jerusalemer Tempel in den freimaurerischen Kram mit Salomos Tempel besser passte und griff. Dass dahinter die Tagespolitik und Machtgeplänkel standen, scheint außer Zweifel zu sein, aber wer, was und mit oder gegen wen? ist noch nicht ausreichend untersucht worden.)

Also, was bleibt …

Wenn das, was ich jetzt sage, jemandem bekannt vorkommt, irrt er nicht: Ich werde mich an die Phänomene der Sprache stützen. Schließlich ist auch die Freimaurerei mit ihrer pädagogischen Symbolik ein Teil der Kommunikation. Aber, so wie man überall hört und liest, die Freimaurerei sei keine Besserungsanstalt, sie will nur dem Einzelnen bei der Vervollkommnung quasi zur Hand gehen. Womit? Mit den Symbolen, Gleichnissen, Metaphern.

Also, was bleibt …
Oft denke ich mir: vertane Zeit. Ich höre zum x-ten Mal eine Ausführung über die Rose, das Licht, die Humanität, die Toleranz und so fort. Zitate sind in Ordnung, Quellen wie immer, die Aneinanderreihung der Argumente von Süden über Norden im Sonnenlauf – korrekt. Es entstehen sogar sprachliche Pentagramme, Dreiecke, Oktogone – alles Allgemeinplätze. Ich schaue herum in die Gesichter der Brüder: Bahnhof, Bahnhof, Bahnhof. Hoppla! Zurück! Kein Bahnhof, der schläft. Doch es geht mir hier nicht darum, eine Aufzählung, der in Symbolen versteckten Tugenden oder Laster zu erfahren. Diese Worthülsen kenne ich. Nicht das Aufsagen der Attribute ist wichtig, sondern deren Anwendung. Worüber phrasierte der Redner? Natürlich, über die Toleranz, die zu dem beliebtesten Tummelplatz der Freimaurerei geworden ist und sich bisweilen auf die Duldung des Gegensatzes erstreckt.
Oft sehe ich vor mir die Grundsätze unserer ehrwürdigen Bruderschaft als eine dauerhafte, tragfähige Brücke, auf der die Brüder stehen und die überfüllten Autobahnen um sich herum bewundern. Die Brücke steht in einem Acker und es ist kein Bautrupp zu sehen, der die Anschlussstraßen zu dieser Brücke bauen würde.
Also, was bleibt …

Wenn der Schotte seine kontemplative, nachdenkliche Zeit beendet hat und in die aktive, gestaltende Phase übergeht, dann ist die Frage nach seiner Vorbereitung mehr als berechtigt. Die Vernunft hat die Erde verkrümmen und zum die Sonne umkreisenden Himmelskörper werden lassen. Auch die Vernunft, die der Betonung seiner Kritikfähigkeit an sich nicht immer bedurfte, sozialisierte einst die Gesellschaft, unterstützte günstige gesellschaftliche Instinkte und katalogisierte die gewonnenen Werte in verpflichtenden Kodizes. So hat auch die Vernunft das Verb dulden und seine Derivate aus schierer Not gebären müssen. Das Verb ist auf den Umwegen mit der Toleranz verwandt, und obwohl die beiden Begriffe eigentlich das Gleiche bedeuten – ertragen, gelten lassen, zulassen –, werden sie heute doch mit unterschiedlicher Färbung und Nuancierung verwendet. Die von uns so hochgehaltene Toleranz verstehen wir eher als Großzügigkeit, Weitherzigkeit, als eine Geisteshaltung: vielmehr eine Herzensbildung. Und aus dieser zufriedenen Großmutigkeit ob erfüllter Nächstenliebe, verkennen wir nur zu gerne, dass dies nicht den eigenen Wertevorstellungen entspricht. Dass dies meistens zu den Kodizes unserer Vernunft im groben Widerspruch steht. Chronische Umgehung von Moral und Gesetz breitet sich, wie ein Krake aus, plündert die Toleranz und die Nächstenliebe. Macht keinen Halt vor Gewissen und Logen.

In der Süddeutschen Zeitung schrieb einst Hans Leyendecker über die Korruptionsfälle in Köln und landete mit seinen Diagnosen mitten im verminten Feld liberaler Widersprüche.
 
Aber weil wir uns noch immer nicht wirklich ernsthaft mit der Frage beschäftigen wollen, welche Veränderung die chronische Umgehung von Moral und Regeln zum eigenen Vorteil für diese Republik bedeutet, wird das Verbrechen üblicherweise in den Farben der Kolportage gemalt. Ein Phantom jagt keinen wirklichen Schrecken ein. /…/Schleichend hat sich das Land verändert. Postenvergabe nach Proporz und Parteienherrschaft haben die Moral der Bürger zertrümmert. Weil das Minenfeld aus privaten Interessen, öffentlicher Kungelei und kaum noch camouflierter Apathie der Verantwortlichen nie geräumt wurde, hatte die Wirtschaftskriminalität beste Chancen, sich üppig zu entwickeln. Es gibt kaum noch einen Bereich, in dem nicht kriminell der Vorteil gesucht wird.Ihre Auftritte verbinden den Nervenkitzel einer Sakristei mit der Sinnlichkeit eines Kreißsaals. Haben diese Kleingeister überhaupt eine Ahnung, warum der Schornstein raucht? Da heißt es zugreifen, ehe es zu spät ist, einsteigen, bevor der Zug abgefahren ist. Im Souterrain des real existierenden Parlamentarismus ist für Moralisierer kein Platz.
 
(Hans Leyendecker, SZ v. 23./24.03.02)
 
Wir erheben die Toleranz zu den Kardinaltugenden in der Hoffnung, dass sie auch mal uns zuteil wird. Dass sie eine sekundäre Tugend ist, die oft genug von uns verlangt, dass wir die primäre Tugend, das Rechtsbewusstsein, vernachlässigen, sogar außer Acht lassen, scheint keinen zu stören. Lieber schauen wir weg, lieber verstecken wir die fehlende Zivilcourage hinter den Worten Aristoteles’: „Die Gerechtigkeit, der Inbegriff aller Moralität, ist ein staatliches Ding. Denn das Recht ist nichts anderes als die in der staatlichen Gemeinschaft herrschende Ordnung, und eben dieses Recht ist es auch, das über das Gerechte entscheidet.“ Das kleinkarierte Obrigkeitsdenken, das uns mit den Diktaturen, Kriegen und dem Totalitarismus belohnt, beflügelt unsere Toleranz bis auf die Höhen der Maxime: Lass dich nicht erwischen! Und wie lange der Staat einen nicht erwischt, so lange genießt er unsere verständnisvolle Toleranz der Trittbrettfahrer.
Der Autor nimmt sich aus dem Kreis der Gescholtenen nicht aus: Er trabt, vom Herdentrieb angezogen, brav mit und versucht, seine lang gezogenen Ohren als Nachdenklichkeit zu verstellen.

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