Die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies

Rolf Eicken

31. März 2024

Foto: Trautonix / envato.com

Der westeuropäische Mensch ist es in seiner Zivilisation gewöhnt, dass das Leben voranschreitet und sich progressiv entwickelt. Dies gilt auch für die Entwicklung der Wissenschaft, der Industrie mit allen Gewerben und für das BIP; er glaubt also unerschütterlich und ganz allgemein an die Weiterentwicklung in seinem Leben.

Seit der Renaissance ist unsere Spezies durchdrungen von der Idee, dass der Fortschritt, ideell und materiell, nicht nur möglich, sondern unbedingt notwendig ist. So wurden wir Melioristen, d. h. an stete Verbesserung glaubende (von lat. melior = besser).

Dieser Glaube ist nahezu unerschütterlich und der Gedanke an Stagnation oder Rückschritt, ob im eigenen Leben oder in der Gesellschaft ist den meisten Menschen der westlichen Zivilisation ein Gräuel!

„Leben ist ein ewig Streiten, ist ein ewiges Geschehen. Stille stehen heißt – rückwärts schreiten rückwärts schreiten – untergehen!

Die geschichtliche Entwicklung

Es hat schon sehr früh angefangen im christlichen Glauben, indem die Vorstellung vorherrschte, dass es eine zielgerichtete Heilsgeschichte gibt.

Nach dem Verlassen des Paradieses, musste der Mensch selbst dafür sorgen, dass er vorankam. Die Suche nach Gott war seine Leitlinie. Ein Voranschreitender, ein zu Gott Strebender, das ist der idealtypische, gläubige Christ. Das ging so bis ins Mittelalter.

Nach der Dämmerung des Mittelalters kam die Morgenröte der Neuzeit. Hier wurde der Mensch getrieben von den aufkommenden Naturwissenschaften. Die metaphysisch, religiösen Deutungen der Welt wurden allmählich verworfen und durch rational-analytische Erklärungen ersetzt. Hegel beschreibt den menschlichen Geist als ein Geschehen auf der Basis der Entwicklung der Vernunft, ein Prozess des „Zu sich selbst Kommens“. Ein Geist, der letztlich in den Weltgeist mündet. Der neue Glaube an die Wissenschaften beflügelte die Menschen aber auch. René Descartes, Nikolaus Kopernikus, Kepler, Isaac Newton und Francis Bacon brachten die Erkenntnisse in die Welt. Bacon postulierte: „Wissen ist Macht“! Seitdem ist die Wissenschaft der wichtigste Taktgeber des Fortschritts. Und heute ist das Bruttoinlandsprodukt der neue Gott, das Maßband, an dem der Fortschritt eines ganzen Landes gemessen wird. Formelhaft ausgedrückt: Fortschrittsgesellschaften sind Wachstumsgesellschaften, sind Wohlstandsgesellschaften, die den Wahnsinn von Größer-Reicher-Besser verkörpern, womit wir wieder bei den Melioristen angekommen sind.

Eine substanzielle Wachstumsrate bleibt des Ökonomen liebstes Kind. Und überall herrscht die Idee, dass wir den Fortschritt benötigen, wollen wir dem Untergang durch Rückschritt entgehen.

Regression

Sigmund Freud stellt in seinem „Abriss der Psychoanalyse“ fest, dass das Innenleben seiner Patienten diesem Meliorismus entgegengesetzt war, sie also auf einer eher primitiven Ebene emotionale Turbulenzen erlebten. Er nannte das „Regression“. Die Psyche dieser Patienten weigerte sich, die Welt so anzunehmen, wie sie war und sie verfielen dabei auf den Trick, die Welt für sich durch das Manöver der Regression, also eine oder einige Stufen tiefer, wieder annehmbar und genießbar zu machen. Es geht dabei einem regredierenden Menschen stets um die Rückgewinnung eines seelischen „Status quo ante“, ein nicht ungefährliches Manöver, das bis zum Psychotischen, Primitiven und Infantilen möglich ist. Im Extremfall ist der Wahn oder der Tod die Endstation. Psychologen sprechen dann von „maligner Regression“, einem irreversiblen Weg in die Psychose. Daraus führt kein Weg zurück in die normale, seelische Struktur, wobei die Frage gestellt werden muss „was ist normal?“

Die meisten Menschen kennen sich so gut, dass sie seelische Veränderungen bei sich schnell bemerken. Vorsicht ist allerdings dann geboten, wenn durch Alkohol, Drogen – auch sog. harmlose – Entspannung gesucht wird. Das wohlige, warme, entspannte Lebensgefühl, wird oft durch Alkohol herbeigeführt, ist aber dann schon ein untrügliches Anzeichen einer eingetretenen Regression. Psychologisch bedeutet das: „Die Torwächter“ des rational operierenden ICHS sind zurückgetreten und haben die Tore zu den Möglichkeiten intensiver Triebbefriedigung geöffnet.

Nietzsches Dionysos lässt die kalten, überforderten Objekte dieser Welt im wärmeren Licht erscheinen. Der Mensch, der ein gewisses Quantum Alkohol genossen hat, fühlt sich meist nicht nur wohler, sondern ist auch freundlicher, aufgeschlossenen, heiterer. Aber ein immer mehr davon, da die Wirkung des angeblichen Therapeutikums bald nachlässt, führt zum Alkoholismus und ein dann unweigerliches Absacken kann bis zur Psychose und dem Tod führen.

Neurotiker

Allerdings sind z. B. auch Neurotiker, die von einer Obsession verfolgt werden, gefährdet, da ihre seelische Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies ungestillt bleibt.

Der Engländer George Wells erzählt die Geschichte einer Suche nach der Erlösung in seiner bemerkenswerten Erzählung: „The Door in the Wall“. Wells zeigt uns in der Geschichte einen lebensüberdrüssigen Politiker und Neurotiker, der von einer Obsession verfolgt wird, der Vision, als kleiner Junge in einer abgelegenen Straße Londons einen „paradiesischen Garten“ besucht zu haben – ganz offensichtlich ein Fall einer halluzinatorisch verursachter Regression in Form einer Vision. Nun muss man wissen, dass eine Vision die Person gänzlich unerwartet überfällt, sodass der Mensch willenlos ist und es wird der ganze Körper incl. der Psyche vereinnahmt. Das Fatale daran ist, dass die Person, der das passiert, nachher unerschütterlich davon überzeugt ist, dass das in der Vision Erlebte ihr in Wirklichkeit widerfahren ist.

Der Politiker verzweifelt an der späteren Unwiederbringlichkeit seines frühen, visionären Erlebnisses. In jener Lebenssituation, die wir heute als „Midlife-Crisis“ bezeichnen, verfolgt ihn hartnäckig die Erinnerung an seine goldene Episode der Kindheit, die nie real war, jedoch als regressive Fantasie eine unwiderstehliche Macht ausübt.

Er erzählt einem Freund von der ihn heimsuchenden Erinnerung als eine Schönheit und Glückseligkeit, die sein Herz mit unstillbarer Sehnsucht erfüllt und ihn damit sein tatsächliches Leben trist und sinnlos erleben lässt. Diese Glückseligkeit, die, in der Vergangenheit erlebt, ihm in der Gegenwart das Lebenslicht nimmt, liegt in einem Garten hinter einer grünen Tür. Er erzählt seinem Freund: „Es lag dort etwas in der Luft, das mich freudig erregte, das mir das Gefühl von Leichtigkeit und des Wohlbefindens verlieh und freudige Ereignisse erwarten ließ. Weißt Du, als die grüne Tür hinter mir zufiel, vergaß ich alle vertrauten Dinge des Lebens. Ich wurde sofort ein sehr glücklicher und wunderseliger kleiner Junge in einer wunderbaren, anderen Welt.“

Dieses Erlebnis sollte sich als unvergesslich und als ununterdrückbar erweisen. Immer wieder tauchte vor seinem inneren Auge periodisch die grüne Tür auf.

Psychoanalytiker nenne das „regressus at utrerum“ – Rückkehr in den Mutterschoß. Dieser Wiederholungszwang wurde von der kindlichen Glückseligkeit genährt und war für ihn unvergesslich.

Eines Nachts irrte der Politiker wieder einmal auf der verzweifelten Suche nach der grünen Tür durch die Londoner City. Er findet schließlich im Zaun einer Baustelle die grüne Tür, geht hindurch – und stürzt in den Tod.

Die Suche nach dem inneren Paradies war zu Ende, der magische Ort seiner Sehnsucht war unauffindbar. Der Traum betrügt dramatisch den Träumer: maligne Regression!

Künstler und der Alkohol/die Drogen

Und genauso trügerisch sind die meisten, künstlichen Paradiese, die z. B. durch Alkohol oder Drogen aufgesucht werden.

Künstler erschaffen oft erst unter Drogeneinfluss erstaunliche Exponate. Dies geschieht dann allerdings unter „kontrollierter Regression“. Der Künstler macht dabei inspirative Erfahrungen, die es ihm erlauben, aus der Tiefe der Seele wieder aufzutauchen, um der Gefahr zu entgehen, d. h. in einen gefährlichen Strudel zu geraten.

Bei dem Wiener Künstler Fuchs, der Leitfigur der Wiener Schule, gingen diese Experimente gut; denn er entdeckte im Abstieg in die tiefsten Brunnentiefen künstlerischer Inspirationen, eine Kunstform, die er als „Verschollenen Stil“ bezeichnete. Es geht dabei um Urbilder, Urwesen und Urgründe ästhetischer Sujets, oft in altbiblischen Motiven, in Zeitreisen und je tiefer er hinabstieg, umso faszinierender sind die daraus entstandenen Bilder. Die so von ihm erschlossene Innenwelt offenbarte sich ihm als „terra incognita“ der Psyche.

Bei dem amerikanischen Poeten, Allen Ginsberg, gingen die Drogenreisen schief. Er wollte mit LSD und Mescalin die entseelte Kultur der westlichen Welt erleuchten und gewissermaßen als Erlöser auftreten. Ginsberg hatte die Gefahren regressiver Selbsterforschung unterschätzt. Seine Psyche war nicht stabil genug, um den Gefahren des Rausches zu widerstehen.

Die Drogen führten ihn zwar den Weg nach Innen, aber die außer Kraft gesetzten Sicherungen rationaler Kontrolle, weckten Dämonen, die seine Psyche terrorisierten.

Er wurde von Todesvisionen, Horrorfantasien, von Empfindungen der Erdrosselung oder der Auslöschung geplagt.

Was aber auch geschehen kann, wenn ein ganzes Volk durch eine Handvoll Demagogen von Worten kontaminiert wird, die sie auf die Stufe der Barbarei herunterziehen, hat die NAZI-Zeit gezeigt. Allein durch die Tatsache, Glied einer entfesselten Masse zu sein, lässt den einzelnen Menschen mehrere Stufen auf der Leiter der Kultur hinab steigen.

Schlussbemerkungen

Allgemeine Störungen der Psyche wurden von Sigmund Freud als „wachsendes Unbehagen in der Kultur“signalisiert und ist dem Konflikt von Trieberfüllungswünschen oder dem Triebverzicht zuzuschreiben. Was heute durch antibürgerliche Freiheiten Unbehagen bereitet, hat nur wenig mit Triebverzicht durch bürgerlich-repressive Moral, dafür umso mehr mit existenziellen Nöten und Ängsten zu tun. Nicht die innere Auflehnung, sondern die diffuse Angst vor unkontrollierten Gewalten einer global wuchernden Zivilisation und der Realitätsdruck durch Probleme wie die Zeitnot des urbanen, gestressten Menschen, die Flut der zu verarbeitenden Informationen, die Umweltvergiftung, den politischen Terrorismus, die Seuchen und die Pandemie, werden sämtlich als Existenzbedrohung empfunden. All das belastet die Psyche der Menschen in der heutigen Gesellschaft, die sich davon überfordert fühlen. Das alles sind Faktoren, die den sog. Fortschritt zum Tyrannen gemacht haben.

Meiner Meinung nach wäre weniger mehr und ich empfehle jedem Bruder, falls dies erforderlich ist, weil er sich überfordert fühlt, als Therapie – eine kontrollierte Regression. Stille stehen ist nicht immer ein Rückschritt und selbst ein kontrollierter Rückschritt, um innerlich zur Besinnung zu kommen, bedeutet nicht den eigenen Untergang.

2 Antworten

  1. Ich verstehe nicht, warum sich Herr Wolfgang Berg entschuldigt. Er hat dafür keinen Grund. Zumindest ist für mich keiner erkennbar.
    Ich bin z. Zt. in Spanien zur Erholung, weil ich 11 Monate meine bettlägrige Frau allein gepflegt habe und Erholung brauche.
    Liebe Grüße
    Rolf Eicken

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