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Nicht erst seit Helmut Schmidt bekannt hat, als junger Leutnant die „Selbstbetrachtungen“ von Marcus Aurelius im Feld mitgeführt zu haben, ist der antike Kaiser und mit ihm der Stoizismus als lebenspraktische Philosophie bekannt. Seit seiner Wiederentdeckung durch die Humanisten des 16. Jahrhunderts sind die „Reflexiones“ (so lautet der Titel in Deutschland, dazu unten mehr) des Imperators, in der Stille der Nacht verfasst, ein Longseller.
Der Originaltitel von Marcus Aurelius lautet „Τὰ εἰς ἑαυτόν“ (lateinisch: Meditationes). „Selbstbetrachtungen“ ist eine etablierte deutsche Übersetzung. „Reflexiones“ ist eine moderne spanische Bezeichnung und im Deutschen unüblich – sollte im Deutschen durch „Meditationen/Selbstbetrachtungen“ ersetzt werden. Darin berichtet Marcus über sein Wachsen als Mensch und die Regeln der Stoa, die er dabei anwendet. Sie fordern – kurz und sehr vergröbernd geschildert – Selbstdisziplin, Zügeln der Leidenschaft, Förderung diverser Tugenden und Gelassenheit. So ist die stoische Gelassenheit bei uns sprichwörtlich geworden; wir sprechen immer dann davon, wenn ein Mensch selbst unter dramatischen Umständen keine äußerlichen Gefühlsregungen erkennen lässt. Dabei ist die Selbsterziehung, das Gute einmal erkannt, der Weg, auf dem eine Person reifen kann.
Wer bei diesen dürren Ausführungen bereits an die Freimaurerei denkt, ist sicher auf der richtigen Spur. Auch unser System knüpft an das Gnothi seauton (Erkenne Dich selbst) an und gibt dem Lernenden eine Reihe von Werkzeugen an die Hand, mit deren Hilfe die Selbsterziehung gelingen kann. Die drei wichtigsten Instrumente der meisten freimaurerischen Öbedienzen heißen vertrauliches brüderliches Gespräch, freimaurerisches Symbol und Ritual. Beiden – Freimaurerei und Stoa – ist also gemein, dass der wesentliche Impuls zur Verbesserung der Handlungen und des Charakters nicht von außen kommt, sondern dass ein innerer Prozess vorliegt, der den Schüler (der wir im Sinne beider Wege immer bleiben) zur Veredelung seines Charakters veranlasst. Nur, wenn der Einzelne es wirklich will und die Wahl freiwillig geschieht, besteht eine Chance auf Umsetzung.
Da ich bei den meisten Lesern die Wirkprozesse der Maurerei als bekannt voraussetzen darf, möchte ich mich nachfolgend der Stoa widmen und die Punkte beschreiben, die für diese Philosophie wesensbestimmend sind. Danach wollen wir die Gemeinsamkeiten der Freimaurerei und des Stoizismus betrachten, bevor ich auf mein eigentliches Thema, die Amalgamierung beider für eine gelungene Lebensführung, eingehe.
Die Stoa besitzt Wurzeln, die bis ins 3. Jahrhundert v. Chr. reichen. Ihre Wiege stand in Athen, jedoch wird Zenon von Kition (Zypern) als Stammvater genannt. In den folgenden Jahrhunderten wurde die Philosophie namentlich durch Seneca, Epiktet und Mark Aurel weiterentwickelt. Als zentrale Idee nehmen die Anhänger der Lehre an, dass der Mensch durch Vernunft und innere Haltung ein tugendhaftes und gelassenes Leben führen kann. Stoiker glauben, dass nur das kontrolliert werden sollte, was in der eigenen Macht liegt (z. B. Gedanken, Entscheidungen), und alles andere (z. B. Schicksal, Meinungen anderer) akzeptiert werden sollte. Dabei besteht ein Missverständnis in der Öffentlichkeit. Der zentrale stoische Begriff ist Apathie (Freiheit von leidenschaftlichen Affekten). Dabei lehnen Stoiker Gefühle nicht ab; ihr Ziel ist die Läuterung/Steuerung falscher Werturteile und leidenschaftlicher Affekte – nicht Gefühllosigkeit.
Wer sich dabei an das rheinische Gebot „et kütt wie et kütt“ erinnert fühlt, liegt sicherlich nicht falsch, jedoch sei an dieser Stelle gesagt, dass der Ausschweifungen zugeneigte Rheinländer bestimmt nicht als Vorbild für stoisches Verhalten dienen kann. Ich weiß, wovon ich schreibe.
Die Stoa strebt nach einigen einfachen Zielen, die umso schwieriger zu erreichen sind: Seelenruhe, Freiheit von Leidenschaften, ein Leben im Einklang mit Natur und Vernunft. Sie lehrt, dass äußere Umstände weder gut noch schlecht sind – nur unsere Einstellung dazu zählt. Insofern ist der Stoizismus, modern gesprochen, eine Anleitung, Resilienz und Widerstandsfähigkeit wachsen zu lassen, Eigenschaften, die in einer zunehmend krisenhaften Welt umso wertvoller sind.
Kurz zur äußeren Erscheinung der „Selbstbetrachtungen“: Wie bereits erwähnt, schrieb der Kaiser seine Selbstbetrachtungen nachts, wahrscheinlich auf seinen zahlreichen Feldzügen in Germanien. Das Werk besteht aus zwölf Büchern bzw. Kapiteln, die in nummerierte Abschnitte unterteilt sind und meist kurze Gedanken enthalten. Deren Gliederung ist wahrscheinlich nicht vom Autor selbst vorgenommen worden, sondern stammt von späteren Editoren. Marcus Aurelius verfasste seinen Text auf Altgriechisch, was seine starke Prägung durch die griechische Philosophie zeigt. Stilistisch kann das Werk am ehesten als Aphorismensammlung gelten, denn es besteht weder ein durchgehender Fließtext noch eine nachvollziehbare Systematik. Der Autor ist selbst Adressat seiner kurzen Notizen, Reflexionen, Maximen und Mahnungen. Entsprechend richtet er Imperative und Appelle an sich selbst, stellt sich Fragen, um zur Selbstprüfung anzuregen, oder nutzt Vergleiche und Metaphern, z. B. aus der Natur oder dem Alltagsleben. Es existiert keine klare thematische Gliederung – Themen wie Tugend, Tod, Vergänglichkeit, Pflicht, Kosmos usw. tauchen über alle Bücher verteilt auf.
Vielleicht erklären den anhaltenden Erfolg der Stoa wie der Selbstbetrachtungen die Zeitlosigkeit, die eine richtige Lebensführung damals wie heute ausmacht, sowie die Tatsache, dass Krisen und Gefährdungen zu allen Zeiten das Leben der Menschen bestimmt haben. Das Versprechen: Innere Ruhe und Tugendhaftigkeit lassen sich trotz äußerer Widrigkeiten erreichen. Die Kontrolle über die eigenen Gedanken und unser Inneres ist der einzige Hebel, der zur Verfügung steht, weshalb man störende oder leidvolle Gedanken bewusst abweisen sollte. So lässt sich auch die damals wie heute allgewärtige Angst im Zaum halten; ein ironischer Gedanke, wenn man bedenkt, dass der Schöpfer dieses Postulats ein Herrscher war, auch wenn ihm heute das Prädikat „gut“ verliehen ist. Furcht war schon immer ein Herrschaftsinstrument. An dieser Stelle sei als Analogie zu Maurerei und Stoa an den Roman „Der Name der Rose“ erinnert, in dem der Vertreter der Aufklärung, William von Baskerville, die Macht der Angst entlarvt. Der Gegenspieler des Franziskaners, Jorge von Burgos, spürt, wie die Macht der Kirche, die auf der Angst vor der ewigen Verdammnis fußt, durch die Vernunft und das Lachen gefährdet wird: „Das Lachen befreit den Bauern von der Furcht vor dem Teufel … Wenn das Lachen die Kurzweil des niederen Volkes ist, so muss die Freiheit des niederen Volkes … erniedrigt und eingeschüchtert werden … würde jemand … die Kunst des Lachens zur schneidenden Waffe schmieden … dann würdest auch du, William, mitsamt deiner ganzen Weisheit in den Strudel gerissen!“
Die Überwindung von Angst, an deren Stelle Vernunft tritt, das Primat des gesunden Menschenverstands, das Einhegen von Emotionen sind ein Weg, Herrschaft in Frage zu stellen, er könnte auch aus der Freimaurerei stammen, sind doch der Glaube und die Arbeit an sich selbst ein ureigenes Ziel der Königlichen Kunst. Auch das Memento Mori, die Erinnerung an die Kürze des Lebens und die Vergänglichkeit aller Dinge, sind freimaurerische Leitplanken. Leid und Eitelkeit treten zurück, was hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Weitere Elemente der Stoa und der Freimaurerei sind deckungsgleich, dazu zählen Pflichtbewusstsein und Naturgemäßheit: Der Mensch soll seine Rolle als Teil des Kosmos erkennen und seine Aufgaben mit Pflichtgefühl erfüllen – gemäß seiner Natur als vernunftbegabtes Wesen. In dem viel zitierten Satz „Unbeirrt vom Lärm der Welt geht der Maurer seinen Weg“ liegt eine weitere Wesensverwandtschaft zu der Methode der Stoa, die eine Distanz zu äußeren Meinungen und Ereignissen empfiehlt. Kritik, Ruhm oder Schicksalsschläge sollen den inneren Frieden nicht stören. Entscheidend ist nicht, was geschieht, sondern wie man darauf reagiert. Stärkung der inneren Autonomie und der Ausrichtung auf ein tugendhaftes, gelassenes Leben im Einklang mit der Vernunft treffen sich mit
Forderungen aus der Freimaurerei. Mit diesen Ähnlichkeiten enden die Analogien nicht. Als Beispiel sei hier die freimaurerische Gesprächskultur genannt, die vom Primat des Vortrags der Argumente statt vom lauten Durchsetzen des eigenen Standpunkts geprägt ist. Auch der Umgang mit Kritik, der aufrichtige Versuch, eigene Fehler durch fremde Hinweise zu erkennen und zu korrigieren, gehört in diese Kategorie.
Was aber macht die Kombination Stoa und Freimaurerei so erfolgreich? Einen wesentlichen Anhaltspunkt bieten die Zeitläufte. Unsere westliche Welt taumelt von einer Krise in die nächste, Werte, die vermeintlich unumstößlich galten, werden infrage gestellt. Selbst scheinbar unantastbare Grundrechte wurden während der Corona-Pandemie eingeschränkt und infrage gestellt. Der allgegenwärtige Kulturkampf verunsichert viele Menschen. Eine nennenswerte Gesprächs- oder gar Streitkultur, wenn es sie denn jemals gab, hat sich aufgelöst. Die Pole sind stark, die Mitte entsprechend geschwächt. Die Vernunft hat ihr Primat den Gefühlen gegenüber verloren. Kriege, die erbittertste Auseinandersetzung wird im jahrzehntelang friedlichen Europa ausgetragen, beherrschen die Schlagzeilen. Der Einzelne scheint machtlos, und gegenüber den überpersonellen Prozessen ist er das auch. Allerdings ist er nicht hilflos, und hier kommt das Angebot von Stoa und Freimaurerei ins Spiel. Beide betonen die Überlegenheit der Vernunft gegenüber dem Gefühl. Gegen das permanente Feuer aus schlechten Nachrichten, apokalyptischen Meldungen und düsteren Aussichten hilft innere Gelassenheit, aus der Resilienz erwächst. Wenn die beiden Strategien, die dem Menschen zur Verfügung stehen – Opportunismus oder Widerstand – aus verschiedenen Gründen nicht verfangen, ist der dritte Weg, der Weg nach innen, erfolgversprechend. Damit diese Haltung nicht in eine neuere Innerlichkeit, schlimmer noch Weltfremdheit oder ein Neobiedermeier führt, bleibt die Anteilnahme an der Gesellschaft in Form von sozialer Arbeit, gemeinnütziger oder karitativer Tätigkeit. Den Unterschied machen die innere Distanz, die die Stoa fordert, und die Kritik, die aus dem aufklärerischen Impetus der Freimaurerei erwächst. In einer Welt, die bis zur Hysterie lärmend ist und vor lauter Geräusch kaum einen vernünftigen Gedanken zulässt, ist die Stille im eigenen Inneren wohltuend und heilend.