Geist gegen Gewalt

Jens Oberheide

23. Januar 2024

Bildnachweis: © Tryfonov / stock.adobe.com

Die Weltwirklichkeit berührt und betrifft uns alle. Ich muss deswegen nicht näher auf all die Schrecklichkeiten eingehen zwischen Terror und Krieg, Hass, Lüge, Angst, Ohnmacht und Wut. Und auf all´ die Ungereimtheiten zwischen Dummheit und Populismus. Das Szenario hat uns im Griff. Medial und mental. Darf man angesichts der Realität, die uns aktuell bedrängt und betrifft, von einer positiven Lebenssicht reden? Ich meine: Ja. Gerade deswegen.

Das Thema ist alt, denn wir hätten ja keine Vorstellung davon, was gut ist, wenn uns nicht immer wieder das Böse so nahe käme. Möglicherweise haben unsere Altvorderen sinngemäß „Gottseidank“ gedacht, wenn nach bedrohlicher Dunkelheit die Sonne aufging. So verehrten sie auf ganz natürliche Weise das Licht und verknüpften es mit Sinn. Wo wären sie mit ihrer Verehrung geblieben, wenn es durchgehend hell und freundlich gewesen wäre? Wie hätten sie ihre Ängste in den Griff bekommen, wenn es immer dunkel und bedrohlich geblieben wäre? So entstand die Zuversicht, dass die Sonne immer wieder aufgeht und das Licht der Weisheit, der Wahrheit und Gerechtigkeit das Dunkel der Gefahr überwindet. Ist uns diese alte Zuversicht abhanden gekommen? Ist sie zu simpel für zivilisierte, „aufgeklärte“ Menschen?

Wir könnten archaische Symbolwelten übersetzen. Aber wir Heutigen brauchen für zeitgemäße Adaptionen unendlich viel mehr Worte und ausgiebig kontroverse Diskurse, wissenschaftliche und medientechnische Absicherung. Solchen Üblichkeiten zum Trotz will ich noch einige Male eintauchen in die archaischen Welten mit ihrer symbolischen Vielfalt. Da ist zum Beispiel der Begriff „Arche“ . Er kommt aus dem lateinischen „arca“, und kennzeichnet zunächst ganz schlicht einen schwimmfähigen Kasten. Auch das lateinische Wort „scrinium“ („Schrein“) meint einen Kasten oder eine Kiste. Menschenwerk also. Erst der Schreiner (der Tischler) macht daraus eine „kultische Behausung“. Mit einem „Schrein“ bauen die Menschen in asiatischen Kulturen auch heute noch den „Sitz göttlicher Wesen“. Aus der ursprünglich sehr profanen Bedeutung von „Kiste“ oder „Kasten“ übersetzt man aus dem Hebräischen den Wortsinn von „Arche“ („tēvāh“) ebenfalls mit „Schrein“, aber gleichzeitig auch mit „Sarg“. Also ein und dasselbe Wort für polare Sinngehalte. „Schrein“ und „Sarg“. Sinn und Sein könnte man sagen. Das Sinnbild des Unsterblichen und das Unausweichliche des Sterblichen.

Sterben ist unausweichlich. Und weil wir sterben müssen, wollen wir leben. Und weil wir leben wollen, entwickeln wir Widerstandskräfte gegen alles, was Leben bedroht und Werte bedrängt. Und sinnvoll wollen wir leben. Ob wir nun einen Schrein tischlern und uns Götter hinein denken, oder ob wir eine Arche zimmern und Kreaturen retten. Synonym für viele andere Möglichkeiten. Auch das biblische Buch Genesis beschreibt das Zusammenspiel des Göttlichen mit dem Menschlichen. Dort geht es nämlich bei der Arche des Patriarchen Noah um einen göttlichen Plan und um menschliche Handwerkskunst.

Die Kulturphilosophie sieht Noahs Arche deswegen gern allegorisch als Symbol für Kultur, weil das Menschenwissen und der Gedanke des kreatürlichen Miteinanders über die Sintflut gerettet wurde. Die Arche, vom Menschen Noah konstruiert, war also stärker als die Naturgewalten. Das griechische Wort „Arché“ bedeutet soviel wie „Anfang, Urgrund, Prinzip“. Aus dem griechischen Wortsinn „Arche“ wäre die Architektur die archaische Kunst, die „Anfangskunst“. Man findet ihre Spur dort, wo der Mensch begann, sein Dasein und So-Sein auszugestalten. Vereinfacht: Wer eine Arche bauen kann, der kann auch eine Hütte bauen. Die „Bau-Hütte“ ist ein symbolisch deutbarer sozialer und technischer Entwicklungsschritt menschlicher Kreativität.

„Kreativität“, um bei der Wortspielerei zu bleiben, aus dem lateinischen „kreare“, heißt übersetzt soviel wie „Schöpferische Kraft“. Als sich der Mensch seiner schöpferischen Kraft bewusst wurde, war er Baumeister einer neuen Welt. Er baute und dachte selbstbewusst, und er machte die Erfahrung, dass er das konnte. Und was er geschaffen hatte, das wollte er auch bewahren. Deswegen war sein Bauen und Denken immer zukunftsgerichtet. Man baut nicht für heute, damit es morgen zerstört wird. Was man geschaffen hat, was man erlebt, erfahren und gedacht hat, das will man pflegen und weitergeben. Kulturmenschen denken so. Überall in der Welt. Und solches Denken geht oft auch einher mit praktischer Kreativität. Denken und Tun. Wie gesagt: Arche und Hütte.

Nun ist es so, dass jeder, der etwas gestaltet, gern selbst bestimmen möchte, wie er das tut und wie er das Geschaffene einfügen kann ins Miteinander. Er macht die Erfahrung der Gruppe. Man muss sich arrangieren, Wertvorstellungen entwickeln und Ordnungsprinzipien festlegen, damit das alles miteinander funktioniert. Diese soziale Gruppe mit einem „Wir“-Gefühl ist die ursprünglichste Form des Zusammenlebens. Ist dieses „Wir“-Gefühl intakt, dann ist die Gruppe einig, einmütig und stark. Als Schutzbund, als Interessengemeinschaft, und, wenn man Glück hat, als eine sich gegenseitig bereichernde und sich gegenseitig tolerierende Wertegemeinschaft.

Miteinander leben, miteinander wirken und das Beste daraus machen. So einfach wäre das eigentlich. Aber es ist auch jedem bewusst, dass dieses das Schwierigste überhaupt ist, und dass alle Konflikte in der Welt darauf zurückzuführen sind, dass das menschliche Miteinander nicht so reibungslos funktioniert, wie es sinnvoller Weise gedacht ist. Dass der Mensch dennoch immer aufs Neue, selbst nach Krieg und Zerstörung, die alten Gründungsgedanken wiederentdeckt und zum Neuanfang nutzt, zeigt, es es etwas gibt, was stärker ist, als Gewalt. Dieses Etwas ist verbunden mit den „unveräußerlichen Rechten“ der Menschen, die es gilt, mit allen Kräften zu verteidigen, als da sind „Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“. So steht es in den Menschenrechtserklärungen und so definieren sich Kulturgesellschaften als „Inbegriff menschlicher und von Menschen gemachter Lebensverhältnisse“ (Herbert Schnädelbach), als alles, was der Mensch positiv gestaltend hervorbringt. Albert Schweitzer sieht das „… in der Herrschaft der Vernunft über die Naturkräfte und in der Herrschaft der Vernunft über menschliche Gesinnungen.“ Technik und Geist also. Beides. Im Idealfall beides zusammenwirkend.

Zum Verhängnis einer Kultur könne jedoch werden, sagt er, wenn „sie sich materiell stärker entwickelt, als geistig.“ Daran darf man denken, wenn sich ein Ungeist aufmacht, den Geist einer Kultur zu zerstören, wie der Terrorismus, der uns so viel Angst und Probleme macht. Das Fanatische und das Kriminelle sind hier unheilige Komplizen gegen die Moral und den Geist einer Kulturgesellschaft. Ich will mich nicht aufs religiöse Feld begeben, aber anmerken, dass ein Opfer von Gewalt in jeder christlichen Kirche am Kreuz hängt und dennoch oder deswegen zum Symbol für Menschenwürde, Nächstenliebe und Zuversicht wird. 

Was ist das für eine Moral? Kant hat die moralische Fähigkeit des Menschen betont, sich selbst zum Guten zu entwickeln. Demnach wäre diese Fähigkeit gewissermaßen angeboren, und der Mensch könnte sich mit einer solchen genetischen Grundausstattung zur Vernunft emanzipieren, was Albert Schweitzer als Kulturmerkmal benannt hat. Vernunft ist unerlässlich für die Stärke einer Kultur. Der Evolutionsbiologe Marc Hauser behauptet, jeder Mensch würde gewissermaßen mit einem „Moralinstinkt“ geboren. Der Philosoph Richard David Precht greift diese Behauptung auf, gibt aber zu bedenken, dass eine Art genetischen Zusammenspiels erforderlich sei, um moralische Standpunkte zu finden und moralische Entscheidungen zu treffen. Und außerdem können einzelne Menschen und auch Kulturen als Ganzes auf die genetischen Anlagen des heranwachsenden Menschen einwirken. Moral ist bei aller Veranlagung demzufolge immer auch eine Frage der Erziehung. Aber immerhin gibt es sozusagen „von Haus aus“ viele gleichgesinnte, ebenfalls zum Guten veranlagte und zum Guten erzogene Verbündete. So denken wir uns die Kulturgemeinschaft, in der wir leben. Das sind freilich oft nur schweigende Mehrheiten. Laut sind zur Zeit nur die, die Kultur zerreden und jene, die kulturelle Werte aufs Spiel setzen.

Von Plato, dem Begründer der abendländischen Philosophie, stammt der mutige Satz: „Kultur ist der Sieg der Überzeugung über die Gewalt.“ Ein Denker unserer Zeit, Frieder Lauxmann, greift das auf. „Gegen den Ungeist, wie auch immer er erkennbar wird, kann man nur mit geistigen Waffen vorgehen. Man kann ihn überwinden, wenn man ihm geistig überlegen ist.“ Und dann sagt er etwas Entscheidendes: „Nicht der selbstmörderische Gewaltakt ändert die Welt, sondern die liebevolle Hingabe an sie. Die Welt ist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil der Welt. Die Welt handelt in mir und durch mich.“

Aber: Was ist wahr zwischen all den „Fakes“ und dem Unrecht und der Ungerechtigkeit unserer unruhigen Welt?

Wahrheit ist das, was ist. Aber was ist „das“? Wir wissen es nicht. „Wahrheit ist nicht das Endes des Weges, sie ist der Weg selbst“, sagt der Philosoph Comte-Sponville. Das heißt, wir sind alle Suchende auf diesem Weg. Wahrheit muss man suchen, und nur subjektiv könnte man sie finden. Dann hat das aber mehr mit Glauben zu tun als mit Wissen. Der italienische Philosoph Ernesto Grassi sagt: „Die eigentliche Funktion der Schönheit im Ganzen des geistigen Lebens ist der königliche Weg zu Ideen.“ Der französische Philosoph Émile Chartier: „Das Schöne stimmt uns geduldig und freundlich, human im tiefsten Sinn … Wer dagegen die Wahrheit als Lanze schwingt, ist inhuman.“ 

Es gibt tatsächlich den Versuch, einen Minimalkonsens zu finden. Vertreter aller Weltreligionen haben in ihrer Chikagoer Erklärung von 1993 ökumenische Grundkriterien erarbeitet, in denen alle Kulturen übereinstimmen, weil sie alle Menschen umfassen. Die Erklärung hat zwei Prinzipien. Ganz schlicht:

  1. Jeder Mensch muss menschlich behandelt werden.
  2. Wir müssen andere behandeln, wie wir von anderen behandelt werden wollen.

Die schöne Theorie des harmonischen Miteinanders hat noch weitere gemeinsame Wertvorstellungen. Die Gebote „Nicht töten“, „Nicht stehlen“, „Nicht lügen“ gelten beispielsweise in allen Religionen und in allen Kulturkreisen.

Man muss deutlich sagen: Wer diesem Minimalkonsens nicht entspricht, der stellt sich außerhalb unserer humanen und kulturellen Norm. Wer sich jedoch den Prinzipien zugehörig fühlt, der darf auf eine starke weltweite Solidargemeinschaft guten Willens zählen. Die kann Bedrohung und Gewalt nicht verhindern, die kulturelle Bindung gibt uns aber Halt und Sicherheit. Und Stärke, wenn wir sie brauchen. „Friede ist nicht Abwesenheit von Krieg“, sagt Spinoza, „Friede ist eine Tugend, eine Geisteshaltung, eine Neigung zu Güte, Vertrauen, Gerechtigkeit.“ Eine solche Geisteshaltung sollte uns verbinden und stärken.

Möglicherweise hat man bereits einige freimaurerische Denkansätze aus den Anmerkungen zu Kultur und Menschlichkeit heraushören können. Diese Ansätze beanspruchen kein Urheberrecht. Wir sind als Freimaurer natürlich Teil der Kulturlandschaften unserer Welt, wobei uns vielleicht nur das tolerante grenzüberschreitende Denken besonders charakterisiert.

Die eingangs versuchte Rückbesinnung auf archaische Zusammenhänge will ich auch in Verbindung mit unserer Freimaurerei ansprechen. Freimaurerei ist die Idee des sinnvollen Bauens und Gestaltens von Zeit und Raum. Das steht im übertragenen Sinn für das selbstbestimmte Ausgestalten von Lebensraum und Umwelt. Global gedacht ist das ein Gedanke, der alle einschließt und anspricht, so, als wäre die ganze Welt eigentlich nichts anderes, als ein kreativer Gestaltungsraum für alle Menschen. Wir alle brauchen eine gemeinsame Verantwortungsethik. Freimaurerei ist nicht mehr und nicht weniger, als ein Lebensstil. Altruistisch, philanthropisch und kosmopolitisch, unser Sinnangebot ist die zweckfreie Menschlichkeit, bei der es allein um den Menschen und seine Würde geht. Die Sinnentfremdung erleben wir schmerzlich. Resignation wäre jedoch die schwächste Antwort.  Wir sagen: Menschlichkeit, Toleranz, friedliches Miteinander und Füreinander sind machbare Forderungen, die im Kleinen beginnen und sich im Großen fortsetzen lassen. Und ganz sicher ist das anzustrebende bessere Miteinander für eine bessere Welt der wichtigste Lösungsansatz für die Probleme der Welt. Man muss das nur immer wieder unentmutigt versuchen.

Unsere freimaurerischen Vorväter haben uns vor 300 Jahren auf ein nicht näher definiertes „Sittengesetz“ verpflichtet. Sie sagten „das Sittengesetz“, so, als meinten sie eine Ethik für eine Welt. Sie sprachen von etwas, das im Einklang mit allen Religionen steht und innerhalb aller Moralgesetze aller Kulturkreise verstanden werden könnte. Das waren natürlich Idealvorstellungen, entwickelt zunächst aus abendländischem Kulturverständnis, ausgesprochen vor dem Hintergrund der Aufklärung und gedacht im Konjunktiv: Es müsste eigentlich ein Konsens gefunden werden, über alle Kulturen, Religionen und Nationen hinweg. Man müsste sich eigentlich auf gemeinsame Werte verständigen können, etwa auf ein gemeinsames ethisches Fundament. Es müsste eigentlich für alle gelten, was die freimaurerischen Vorväter in dem Fanal „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ als Grundforderung gedacht haben. Die sind dann tatsächlich 1948 in die UN-Charta der Menschenrechte aufgenommen, wo es heißt: „ Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollten einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Wir alle spüren schmerzlich, dass diese idealistische Forderung sich gegen eine unruhige Welt voller Krisen, Kriege, Gewalt und Angst behaupten muss.

Richard von Weizsäcker sagt es treffend: „Am Ideal gemessen, versagt die Wirklichkeit, aber was wäre das für eine traurige Wirklichkeit, wenn sie aufhören würde, sich am Ideal zu orientieren.“ Orientieren am Ideal, aber das Machbare des Denkbaren auch tun, sagen wir Freimaurer. Und so sollten wir alle denken und handeln. Man braucht dafür viele Verbündete.

Im Fadenkreuz des Terrorismus stehen Ideale, die unsere Kultur ausmachen. Aber weil Menschenrechte auch Menschenpflichten sind, sind wir alle in der Pflicht, eine Geisteshaltung gegen Krieg und Gewalt zu positionieren. Und: Die Schicksalsgemeinschaft Humanitas steht in der Pflicht, ihre elementaren Rechte zu verteidigen. Unberechenbar sind leider verblendete Fanatiker, die im Namen angeblicher eigener Ideale das Glück und das Leben anderer Menschen vernichten. Dagegen steht der Geist der Freiheit und eine Menschenwürde, die sich aus der kulturellen Vernunft ergibt. Erklären kann man das einem Fanatiker nicht. Aber gewinnen wird und muss immer dieses Geist.  

Ich möchte zum Schluss Kurt Tucholsky zitieren, mit den Schlussversen eines satirischen Gedichts:

„Gewalt gegen Gewalt, Kraft gegen Kraft
das ist die alte Wissenschaft.
Weißt du …. wie die neue heißt?
Gegen Gewalt den Geist.
Nur der Geist kann die Streitaxt begraben.
Aber freilich…..:
Man muss ihn haben!“

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