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Dies ist gewissermaßen ein Baustück der zweiten Generation. Ich habe vor einigen Jahren einmal zu diesem Thema referiert, doch schon die Diskussion an der Weißen Tafel hat mir gezeigt, dass da noch etwas Wichtiges fehlte; was es war, ist mir damals noch nicht vor Augen gestanden.
Wir Älteren haben zwar immer das Diskussionsverbot zu Politik und Religion der Konstitution gewissermaßen für alle Fälle parat, aber irgendwie passt es nicht zu unserer ganzen geistigen Ausstattung; etwas hängt da schief, wie ein Bild an der Wand, das man im Vorübergehen zurechtrückt. Mir ist erst später klar geworden, dass es um die Verzahnung zwischen maurerischer und profaner Geschichte geht. Ich schlage vor, wir tun das mit der Geschichte der Freimaurerei oder besser mit ihrer Vorgeschichte; denn daraus erklärt sich die Passage in der Konstitution. Man sieht hier deutlich, wie wichtig es manchmal ist, die sogenannte profane Geschichte zu Wort kommen zu lassen, wenn man die maurerische Geschichte verstehen will. Darum in gebotener Kürze:
Die letzten knapp siebzig Jahre vor der Gründung der ersten Großloge weisen – nach vorangegangenem längeren Kampf zwischen Krone und Parlament – folgende Ereignisse auf: die Hinrichtung des Königs, das republikanische Zwischenspiel (Stichwort: Cromwell), etwas später wieder eine Königsvertreibung unter dem großartigen Namen „Glorreiche Revolution“ und schließlich einen Dynastiewechsel (von Stuart zu Hannover), alles natürlich mit entsprechenden Parteiungen im englischen Volk. Was Wunder, dass die Freimaurer in ihren Logen davon nichts hören wollten.
Das ist der wahre und wirkliche Ursprung dieser Passage von den Streitereien über Religion oder Völker oder Regierungen, wie sie uns in den Alten Pflichten begegnet. Wir können übrigens diesen Zeitabschnitt vor der Gründung der Großloge gut vergleichen mit jenen 77 Jahren, die in unserer Zeit seit dem Ende des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs vergangen sind, und da sehen wir, dass die drei schnellwachsenden Giftpflanzen des 20. Jahrhunderts heute noch vielfach präsent sind – in chronologischer Folge: der Kommunismus, der Faschismus und der Nationalsozialismus. Dort hat der Begriff Vaterland eine prominente Bedeutung erlangt, was ihm in der freien Welt der demokratischen Staaten einen gewissen haut goût eingebracht hat, doch wird ein neues Mitglied unseres Bundes damit konfrontiert, kaum dass es maurerisch eingekleidet ist.
Wer nämlich gerade seine Aufnahme in die Freimaurerei erlebt hat, einschließlich der wenigen kurzen Sekunden, in denen mehr als hundert Menschen den Atem anhalten, um die neun Schläge des Hammers auf den Rezeptionszirkel zu hören, der wird eine knappe Stunde später in lebhafter Runde an der Weißen Tafel sitzend einen Trinkspruch hören, der auf das Vaterland ausgebracht wird. Damit steht der neue Bruder vor seiner persönlichen Beziehung zum Vaterland und vor dem Assoziationskarussell, das dieser Begriff auslöst: Volk, Nation, Staat, Heimat. Er braucht sich seiner Verwirrung nicht zu schämen, denn selbst der kluge Karl Renner muss hier passen, wenn er schreibt: „Die Nation ist eine Menschenvielheit, die durch ein geheimnisvolles mystisches Band zusammengehalten scheint.“
Dem jungen Maurer hilft das nicht weiter; er sucht Rat bei der Antike: Man kennt das römische Wort ubi bene ibi patria, das man ganz wörtlich übersetzen muss, um es in seiner nüchternen Absolutheit zu würdigen: wo gut, dort Vaterland. Doch das Vaterland des Römers hat auch eine andere Seite: Beglückend und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben. Hier zeigt sich schon der Anspruch des Vaterlandes auf den Bürger, und dieser Anspruch zieht sich durch die Zeitläufte: mit Gott für Kaiser und Vaterland. Für Führer, Volk und Vaterland.
Wir sehen schon, dass wir es hier mit einem ganz zentralen Begriff zu tun haben, wenn wir an das denken, was man Geschichtspolitik nennt. Wir können dieses umfassende Thema im Rahmen eines Beitrags nur streifen, und deshalb möchte ich mich auf Geschichte, Politik und Vaterland beschränken.
Wir sind heute über das bekannte Wort von Ranke hinaus, der vom Historiker gefordert hat, er müsse beschreiben, wie es eigentlich gewesen ist. Längst hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass das nicht geht. Ich schätze den Satz des amerikanischen Historikers Ray Raphael: History can never re-create the past. Wir können allerdings den Werdegang der Territorialstaaten verfolgen sowie ihre Entwicklung zu Nationalstaaten. Und wir können nachempfinden, wie sich die Geschichte mit der Politik mischt, sobald Geschichte vorhanden ist. Das ist in Europa – und besonders um Europa geht es mir heute – fast überall der Fall, während die Kolonisten in Amerika die längste Zeit Zeugen der Entstehung ihrer eigenen Geschichte sind und erst viel später etwas wie einen Rückblick wagen können. Und eigentlich – schon wieder eigentlich, aber diesmal in anderer Bedeutung – eigentlich also könnten wir uns jetzt die Geschichtspolitik der europäischen Staaten ansehen und dann in Ruhe herausschälen, welche Bedeutung in den vergangenen 300 Jahren den Freimaurern darin zukommt.
Das geht aber leider nicht, weil sie – die Freimaurer – in der Wissenschaft, in der Publizistik und in der öffentlichen Meinung nur in gröblichst verzerrter Form vorkommen. Und das hat seinen Grund. Denn kaum flügge nach der Überquerung des Ärmelkanals sah sich die Freimaurerei einem mächtigen Feind gegenüber, der präzise, gnadenlos und mit jeder Art von Gewalt noch bis ins späte 19. Jahrhundert das Ziel verfolgte, sie zu vernichten. Wir wissen, von wem die Rede ist.
Die bösartige alte Schlange, die katholische Kirche, hat sehr schnell zugebissen. Ich brauche hier nicht die Bullen und Enzykliken herunterzubeten von In eminenti (1738) bis zu Humanum genus (1884), wir kennen das alles. Ich halte nur fest, dass die Freimaurerfeindschaft vom präzise agierenden Apparat der Kirche propagiert wurde, beginnend ganz unten beim Ortspfarrer bis hinauf zum Beichtvater des Herrschers. Und dann, im 19. Jahrhundert, hat sich die unappetitliche Legierung zwischen der „Rassenlehre“ mit dem christlichen Antisemitismus gebildet, nunmehr und seit dem 20. Jahrhundert allgemein bekannt als jüdisch-freimaurerische Weltverschwörung. Heute haben wir das alles hinter uns; der Blick auf die Vergangenheit wird frei.
Lasst uns deshalb gemeinsam eine virtuelle Reise antreten. Wir benötigen dazu weder Auto noch Flugzeug. Wir verlassen einfach durch einen Willensakt diesen Tempel, das Haus und die Stadt. Als erstes betrachten wir den Kampf der amerikanischen Kolonisten in den 13 britischen Kolonien des nördlichen Amerika und sehen hier Brüder am Werk, ungenannt die meisten, vielfach gelobt und verehrt die wichtigsten wie George Washington und Benjamin Franklin. Sie haben die Volksherrschaft auf neuer Erde geschaffen, immer mit dem Blick auf die antike römische Republik mit ihren Begriffen wie Senat und Kapitol, unbehelligt von unverschämter päpstlicher Einmischung.
Die nächsten Jahre bringen uns zurück nach Europa und zur großen Explosion gegen die herrschenden Kräfte, die jahrzehntelang das Schreckbild Europas bleibt, bevor ihre wahre Wirkung auf die Gesellschaft zu erkennen ist. Wieder sind es nur die bekanntesten unserer Brüder, die im Gedächtnis bleiben: Danton und Marat. Und wieder zurück nach Amerika, dieses Mal in den Teil, der vor Zeiten vom Papst zwischen den beiden Seemächten Spanien und Portugal aufgeteilt worden ist. Unsere Brüder Simon Bolivar und José de San Martin erheben sich dort gegen ihre Zwingherren, und auch der Schlachtenlenker des entscheidenden Tages, José Antonio Sucre, ist einer von uns. So geht am 9. Dezember 1824 die spanische Herrschaft auf dem südamerikanischen Festland zu Ende, und fortan nennt man Br. Sucre nach dem Schlachtenort Großmarschall von Ayacucho.
Dann wieder Europa: Italien und Ungarn sind die entzündlichen Stellen auf dem Körper des konservativen Europa, wo die Heilige Allianz über die Friedhofsruhe wacht. Als dann 1848 die Fackel des Aufstands von Paris aus über den Kontinent wandert, sind es wieder Freimaurer, die den Bewegungen ihren Namen leihen: Kossuth und Andrassy in Ungarn, Garibaldi und Mazzini in Italien, schließlich – jetzt schon im 20. Jahrhundert – Mustafa Kemal Pascha, in seinen letzten Lebensjahren und auch seither genannt Atatürk.
Dies ist eine unvollständige Aufzählung. Aber sie zeigt uns schon, dass die Entwicklung vom Beginn der Aufklärung bis zur heutigen parlamentarischen Demokratie stets von Freimaurern begleitet und vorangetrieben wurde. Ich will die Aufklärung nicht für unsere Brüder vereinnahmen; aber sie waren doch jedenfalls ihr Katalysator oder – modern gesprochen – ihr Turbo. Und dabei habe ich José Julian Martà auf Kuba und Alexander Kerenski in St. Petersburg oder José Rizal auf den Philippinen noch gar nicht mitgezählt.
Meine Brüder, wir haben damit unsere virtuelle Reise beendet und sind zurück in Wien, im Logenhaus und im Tempel. Hier können wir Bilanz ziehen über Geschichte und Politik; hier sehen wir, dass die Brüder des Bundes eine höchst ehrenvolle Rolle in der Geschichte der modernen Menschheit gespielt haben. Diese Rolle wird kaum öffentlich anerkannt, weil die alten Feinde in den Köpfen der Menschen eine Reihe von teils lächerlichen, meist aber niederträchtigen Vorurteilen hinterlassen haben. Wir jedoch tragen dieses Wissen unverdrossen in unseren Reihen weiter. Denn in Wirklichkeit ist es doch so, dass die moderne parlamentarische Demokratie viele wesentliche Merkmale der Freimaurerei an sich trägt wie den Gleichheitssatz oder die Gewaltenteilung und das Gewaltmonopol des Staates, alles Ausformungen der beiden maurerischen Säulen Toleranz und Humanität. Das versöhnt uns ein wenig mit dem Schicksal, verkannt zu werden. Auf der anderen Seite sind die Prärogative der katholischen Kirche Schritt für Schritt und Stück für Stück aus dem Leben des modernen Staates verschwunden – Stichworte: Eherecht und Erziehung – und erst wenn wir das Konkordat des jungen Franz Joseph der Missbrauchsdebatte von heute gegenüberstellen, können wir die Länge dieses Weges richtig einschätzen.
Was allerdings über die Jahrzehnte Missverständnisse verursacht, ist unser Grundsatz, dass immer nur der einzelne Freimaurer politisch aktiv ist, niemals jedoch die Freimaurerei als solche als Gemeinschaft. Von der Öffentlichkeit wird hingegen meist am Beispiel des einzelnen Bruders die ganze Kette – sagen wir einmal: in Anspruch genommen. Wie eng dieser Grundsatz ausgelegt ist, musste die österreichische Kette nach dem Zweiten Weltkrieg schmerzvoll erfahren. Es ging dabei um eine Spende, und zwar eine beträchtliche Geldsumme, die ein Bruder 1938 dem Bundeskanzler Schuschnigg für die Volksabstimmung zur Verfügung stellen wollte – für jene Abstimmung, die dann ohnedies nicht stattfand. Aber diese Spende verzögerte die Anerkennung der Großloge von Österreich nach dem Krieg beträchtlich.
Womit wir wieder unversehens beim Vaterland sind, das für den Österreicher in den letzten zweihundert Jahren ja sehr Verschiedenes bedeutet hat. Ich habe einmal eine alte Frau kennengelernt, die aus der Karpato-Ukraine stammte und im Laufe ihres Lebens fünfmal die Staatsbürgerschaft gewechselt hatte, ohne dass sie je etwas dazu getan hätte. Ganz so schlimm war es mit Österreich nicht, aber doch schlimm genug, weil sich hier Staat, Vaterland und Nation recht explosiv vermischt haben und auch noch zwei Weltkriege dazukamen; ein nicht unpassender Kurztitel für die Zeit vom Wiener Kongress bis 1945 wäre: vom Großreich zur Staatsruine. Die innere Befindlichkeit des Österreichers beim Blick auf die europäische Landkarte ist am Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer die: „Das hat ja alles einmal zu uns gehört.“ Der frühere Vizekanzler Bruno Pittermann, mütterlicherseits aus einer Weberfamilie in Deutsch-Liebau (Nordmähren) stammend, pflegte im kleinen Kreis zu scherzen: „Brünn? Brünn ist eine Vorstadt von Wien.“
Ganz anders natürlich die offizielle österreichische Geschichtspolitik; doch hatte auch sie in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg etwas Gönnerhaft-Herablassendes gegenüber den – wie man sie nannte – Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns an sich. Das hatte allerdings auch damit zu tun, dass so gut wie alle von ihnen dem Sowjetreich unterworfen worden waren und die wärmende Sonne des Marshallplans nicht über ihnen leuchtete. Ich möchte Euch hier einen Satz aus Bruder Churchills Zweitem Weltkrieg zitieren, weil er auf mich so einen unerhört tiefen Eindruck gemacht hat: „Es gibt keine einzige Völkerschaft oder Provinz des habsburgischen Reichs, der das Erlangen der Unabhängigkeit nicht die Qualen gebracht hätte, wie sie von den alten Dichtern und Theologen für die Verdammten der Hölle vorgesehen sind.” (“There is not one of the peoples that constituted the Empire of the Hapsburgs to whom gaining their independence has not brought the tortures which ancient poets and theologians have reserved for the damned.”)
Ich möchte gegen Ende des Beitrags noch ein paar Aspekte der Geschichtspolitik erwähnen, wie sie sich international präsentiert. Dabei geht es in erster Linie – natürlich – um die Hervorhebung der Schokoladenseite, wenn man so sagen darf: Nordamerikaner sind stolz auf ihre Demokratie, Südamerikaner auf ihre neue Unabhängigkeit von den Nordamerikanern. Was versteckt wird, sind die dunklen Seiten der jeweils eigenen Vergangenheit. Nehmen wir Europa und Umgebung: Allein die Kolonialmächte hätten da eine ganze Reihe von Sünden der Vergangenheit zu beichten, bis hin zu dem hässlichen Blutsäufer Leopold II. von Belgien, der sich in Afrika einen Privatstaat hielt, achtzigmal so groß wie Belgien, und der dort für Kautschuk und Diamanten an die zehn Millionen Menschen vom Leben zum Tode bringen ließ. Und dieses Untier war der Sohn eines Bruders!
Doch das fast chemisch reine Beispiel von Geschichtspolitik finden wir, wenn wir schon bei Belgien sind, gleich in der Nähe: Deutschland und Frankreich, die beiden Länder mit ihrer langen Erbfeindschaft. Seit Napoleon Bonaparte ging es hin und her, die Emser Depesche führte zum kurzen Krieg von 1870, noch kürzer war nur Hitlers Frankreichfeldzug¸ aber dazwischen war der Erste Weltkrieg, dieses Mal mit deutscher Niederlage, und 1945 dasselbe in weltweitem Maßstab. Geschichtspolitik reinsten Wassers also; soll heißen, Politik mit Berufung auf das gerade Vergangene. Und Geschichtspolitik quasi auf Teufel komm raus – denn was sagte der hellsichtige französische Marschall Foch, als man ihm den Text des Versailler Vertrags vorlegte? “Das ist kein Friede. Das ist ein Waffenstillstand für zwanzig Jahre.” Und genau so traf es ein. Erst Konrad Adenauer und Charles de Gaulle haben diesen Knoten durchschlagen können.
Das war jetzt ein Exkurs in die reine Politik. Da ich mich aber nicht gegen die Politik-Klausel der Alten Pflichten versündigen möchte, weiche ich einfach in die Antike aus und erinnere Euch zum Abschluss an den livianischen Staatsmoralismus. Damals war alles einfacher, damals im Römischen Reich; dem Bürger wurden die bona exempla gezeigt, die guten und heroischen Beispiele römischer Bürgertugend. Und was, wenn die nicht gestimmt haben? Kein Problem für den populärsten aller römischen Geschichtsschreiber, Titus Livius aus Padua. Seine Argumentation in der Sprache der Neuzeit: Kann schon sein, dass dieses oder jenes nicht stimmt, dass es vielleicht überhaupt erfunden ist. Na und? Der primus populus orbis, das erste Volk des Erdreichs, hat das Recht, sich seine Geschichte so zusammenzustellen, wie es möchte – basta.
So einfach kann Geschichtspolitik sein; übrigens nicht nur damals, sondern bis heute. Man könnte viele Bücher damit füllen. Dies als Abschluss meines Textes.
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