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Die Erzählung „Die Morgenlandfahrt“ von Hermann Hesse, geschrieben im Jahre 1932, hat auf den ersten Blick keinen freimaurerischen Inhalt in engerem Sinn, bei tieferer Betrachtung kann jedoch erstaunlich viel von unserem angestrebten geistigen Weg darin erkannt werden. Sie erzählt von einer geheimnisvollen Reise des Protagonisten H. H. nach dem „Morgenland“ – einer Reise, die einen spirituellen Initiationsweg hin zum Licht schildert, wie auch wir Freimaurer ihn zu unternehmen beschlossen haben.
Der Leser wird Zeuge einer inneren Transformation, eines Ringens mit der eigenen Identität und der Erkenntnis, dass die wahre Reise zum Licht in Wahrheit immer nur in uns selbst stattfindet. „Die Morgenlandfahrt“ ist somit mehr als nur eine Erzählung – sie ist eine Einladung zur Selbstreflexion, ein Spiegel unserer eigenen Suche nach dem verlorenen Morgenland, eine Suche nach dem eigenen Innersten.
Das literarische Werk Hesses ist also mit unseren freimaurerischen Symbolen, Archetypen und Allegorien sehr eng verwoben.
Der Protagonist H. H. der Erzählung schreibt: „Die Reise nach dem Morgenland war ein Zug nach dem Ursprung aller Ursprünglichkeit, eine Fahrt in die Kindheit aller Kindheiten, in die Magie aller Magien.” Ist das nicht genau die Struktur, die wir aus unseren den drei Graden kennen? Der Weg vom rohen Stein zum polierten, vom Profanen zum Eingeweihten, auf dem der Suchende sich stets seinen eigenen Schwächen und den geistigen Weg versperrenden Hindernissen stellen muss, um das innere Licht immer klarer erkennen zu können?
Wie wir Freimaurer hat die Bruderschaft der „Morgenlandfahrer“ ihre eigene Geschichte, Symbolik und rituelle Verschwiegenheit. Ihre Existenz bleibt für die Uneingeweihten bedeutungslos oder gar unsichtbar. Sie ist eine Gemeinschaft, der man nicht durch das bloße Überschreiten einer Tür und das Entrichten eines Mitgliederbeitrags beitreten kann, sondern nur durch eine Haltung der inneren Reife, der steten absoluten Ehrlichkeit gegen sich selbst und der Bereitschaft, immer zum Wohle der Bruderschaft zu handeln. Wie bei den „Morgenlandfahrern“ ist im maurerischen Verständnis der Osten ein Ort der Weisheit – von dorther erstrahlt das symbolische Licht, die Erkenntnis, und er ist der Ursprung eines höheren Selbst.
„Alles war Pilgerfahrt, alles war Reise zu einem Ziel, alles war Streben nach dem Morgenland.”
Die Figur Leo in der Erzählung, die zunächst als einfacher Diener in der Gemeinschaft der Morgenlandfahrer erscheint, entpuppt sich als das geistige Zentrum des ganzen Bundes. Dieses Motiv erinnert an den Archetyp des verborgenen, geheimen Meisters: Wer dient, führt. Wer demütig ist, hat wahren Zugang zur Weisheit.
Am Ende der Erzählung steht der viele Irrwege gegangene und schließlich geläuterte H. H. vor einem hohen Gericht. Dieses prüft nicht die profanen Fakten des zu Beurteilenden, sondern seine Lauterkeit, seine Wahrheitstreue, seine Bereitschaft, das eigene Ego zu überwinden und zum Wohle des Bundes zu handeln. Solche Prüfungen sind auch Teil unserer freimaurerischen Rituale: Der Prüfling wird mit sich selbst konfrontiert mit der Frage, ob er freiwillig bereit ist, die volle Verantwortung über neue Pflichten im Hinblick auf das Streben nach Licht zu übernehmen – und nicht durch den Druck einer äußeren Autorität oder aus reinen Prestigegründen.
Hesses Erzähler H. H. hatte die Bedeutung seines eigenen Strebens nach einem Ziel der Reise vergessen und damit den Kontakt mit seinen Mitbrüdern und schlussendlich sein eigenes Selbst verloren. Erst durch die Wiederbegegnung mit dem Diener Leo im Laufe seiner Wanderung und die schlussendliche Wiederaufnahme in den Bund kam es zur Anamnesis, zur Wiedererinnerung. „Ich hatte mich verirrt, hatte mich selbst verloren, war ein leerer Schatten geworden.“
„Die Morgenlandfahrt“ zeigt auch, dass wahre Brüderlichkeit nicht durch eine erstarrte, sinnentleerte Hierarchie entsteht, sondern durch Dienst, Vertrauen, Demut und gemeinsame Ausrichtung auf das Höhere. „Ein jedes Ding hatte seine Zeit, ein jedes hatte seinen Ort, alles war durch das Band des Bundes geeint“, heißt es gegen Ende der Erzählung.
Hesses Erzählung ist zwar primär keine, wie anfangs geschrieben, freimaurerische Schrift. Und doch ist sie durchdrungen von dem, was unser Streben ausmacht: dem Weg vom Dunkel zum Licht, dem Scheitern als notwendiger Stufe zur Reifung, dem Dienst an der Menschheit als wahrer Meisterschaft und der Brüderlichkeit als Trägerin einer höheren Ordnung.
Hermann Hesse war zwar kein Freimaurer im formalen Sinne. Doch im geistigen Sinne hat er mit der „Morgenlandfahrt“ ein Werk geschaffen, das in seinem innersten Wesen unserem Weg sehr nahekommt.