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Der Begründer der analytischen Psychologie, C.G. Jung beschreibt zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Menschen mit mehr als einer rationalen und bewussten Seite.
Unser gegenwärtiges Leben wird von der Göttin Vernunft regiert, die die größte und tragischste Illusion ist. Mit Hilfe der Vernunft, so rede man sich ein, habe man die Natur besiegt. Aber das ist lediglich ein Schlagwort. Der rational denkende Intellektuelle weiß häufig nicht, dass sein Bewusstsein nicht seine ganze Psyche ist.
C. G. Jung
Als Psyche beschrieb Jung die Gesamtheit aller geistigen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale eines menschlichen Individuums. Seit den Überlegungen Sigmund Freuds haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass unbewusste Wirkfaktoren das menschliche Verhalten wesentlich mitbestimmen. Jung belegte diese Faktoren mit dem Begriff Archetypen. Sie begegneten ihm in Träumen, Märchen, Sagen, Mythen und astrologischen Vorstellungen. Er fand Sie vorwiegend bei der Verhaltensanalyse seiner Patienten. Archetypen sind häufig in Bildern und Symbolen dargestellt. Jung identifizierte bei seiner gezielten Suche in diesem Zusammenhang Gefühle einer kaum fassbaren, aus den tiefsten Schichten des menschlichen Inneren stammenden Urkraft. Sie zu erforschen, ja sogar für Patienten zu nutzen, war bis zu diesem Zeitpunkt mit einem eher diffusen Tabu belegt. Die Ressourcen, die bei der Arbeit mit solchen, als neu und anders erfahrenen Erkenntnissen freigelegt werden konnten, wurden zu einem weiten Feld für eine Aufarbeitung und Nutzung bisher unberücksichtigt gebliebener Bereiche des menschlichen Unbewussten. Es wurde eine Reise in psychologisches Neuland.
Menschen des Übergangs ins einundzwanzigste Jahrhundert waren bei diesen Entdeckungsreisen gefordert, mythologische Zusammenhänge zu lesen. Der Begriff „Arche“ kommt aus dem lateinischen „arca“, und bedeutet schwimmfähiger Kasten. Auch das lateinische Wort „scrinium“ („Schrein“) bezeichnet einen Kasten oder eine Kiste. Menschenwerk sind beide. Erst der Schreiner macht daraus eine „kultische Behausung“. Mit einem „Schrein“ bauen die Menschen in asiatischen Kulturen auch heute noch den „Sitz göttlicher Wesen“. Aus der ursprünglich sehr profanen Bedeutung von „Kiste“ oder „Kasten“ übersetzt man aus dem Hebräischen den Wortsinn von „Arche“ („tēvāh“) ebenfalls mit „Schrein“, aber gleichzeitig auch mit „Sarg“. Also ein und dasselbe Wort für gegensätzliche Bedeutungen. Ein Sinnbild des Unsterblichen und das Unausweichliche jedes Sterblichen.
Das griechische Wort „Arché“ bedeutet so viel wie „Anfang, Urgrund, Prinzip“ Es ist eine Bezeichnung für den Urgrund der Welt. Es geht dabei um die Beschreibung von etwas Uranfänglichem, als Antwort auf die Frage nach dem Woher. Man findet seine Spur dort, wo der Mensch begann, sein Dasein und So-Sein auszugestalten, sich einzurichten. Dem Suchenden, am rauen Stein Arbeitenden begegnen in seiner Arbeit unterschiedlichste Archetypen, die alle einen Prozess der Wandlung erfahren. Dieser Metamorphose genannte Gestaltwechsel begegnet einem in der Natur im Wechsel der Raupe zur Form des Schmetterlings.
Archetypen in der Freimaurerei sind beispielhaft die Initiation, die Sonne, das Licht, das musivische Pflaster, die Reisen und die Wandlungen. Ein spezieller Archetypus, der des Schattens, gilt in der Psychologie als wirkmächtiger Persönlichkeitsanteil des Menschen. In ihm vereinigen sich Aspekte, die einem positiven Selbstbild (=Persona), wie wir es anstreben, entgegenstehen. Der Schatten wird dabei von uns verdrängt, verleugnet. Er wächst dennoch gleichzeitig parallel zum Selbstbild und ist im Ergebnis mit dem Ich untrennbar verbunden. Die Auseinandersetzung mit dem Wesen des eigenen Schattens und seine Integration in die angestrebte Gesamtpersönlichkeit (persona) führt zur Individuation (Ganzwerdung) des Menschen.
Jung hat diese Wandlung zum Selbst in einem nach ihm benannten Stufenmodell dargestellt.
Das momentane Konzept vom Menschsein fordert, dass man eine stabile, kontinuierliche Einheit bildet und möglichst im gesamten Verlauf des Lebens ein ausgewogenes, verlässliches Verhalten zeigt. Die Metamorphosen der Monster können dabei für mehrere Identitäten eines einzigen Wesens stehen. Das Selbst dieses Wesens erfährt nach Aufarbeitung aller Schattenanteile in der Komplettierung mit dem Anderen die abschließende Ganzwerdung. Diese Individuation ist das zentrale Thema der esoterischen Freimaurerei.
Die Grundgedanken der Aufklärung, sich von einer selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien zu können, zu wollen, zu müssen, sind wie eine Vorlage für das vertraute freimaurerische Konzept, den Prozess der Selbsterziehung auf dem Boden einer umfassenden Selbsterkenntnis vorzunehmen. Bei dem Prozess der dabei stattfindenden Innenschau ist eine weitgehende Öffnung des Menschen notwendig, für die es besonderer Voraussetzungen und Hilfen bedarf. Sie werden durch das Setting in unseren Bauhütten unter den Regeln der Einübungs-Ethik bereits bei der Aufnahme in der Initiation geschaffen und dann bei seiner immerwährenden Arbeit an sich selbst in den verschiedenartigsten Schritten (Graden) verfeinert und fortgesetzt. Archetypen sind dazu Qualitäten, die man in sich bereithält. Im kollektiven Unbewussten – so C. G. Jung – sind diese energiegeladenen Urbilder in einer tiefen Schicht der menschlichen Psyche – dem Stammesgedächtnis – abgespeichert. Die kollektiven Urbilder sind geprägt von ursprünglichen Verhaltens- und Reaktionsmustern, die man als Mensch – unabhängig von Kultur und Sprache – in sich trägt.
Beseeltes Wesen ist lebendiges Wesen. Wäre die Bewegtheit und das Schillern der Seele nicht, der Mensch würde in seiner größten Leidenschaft, der Trägheit zum Stillstand kommen.
C. G. Jung
Die Urkräfte (Ur-Energien oder archetypische Kräfte) verfügen über ein Potenzial, das genutzt werden kann, um mit ihrer Hilfe zu dem unverfälschten, authentischen Kern vorzudringen.
Die „Authentizität“ wird so zum Ziel der Arbeit des Menschen an sich, an seinem rauen Stein, um sich und so die Welt ein wenig besser zu machen. Sie birgt für den Einzelnen aber auch ein Risiko. Es besteht darin, die dunkle Seite seines Selbst in ein gleißendes Licht der Wahrnehmung aller zu zerren. Es trägt das individuelle Risiko der Selbstbewertung, dessen Freimaurer sich immer in ihrem ganzen Umfang und ihrer Konsequenz bei ihrer freimaurerischen Arbeit bewusst sein müssen.
Ist das einer der Gründe, warum sich vorausahnend oft ein vorwiegend esoterischer gegenüber dem eher exoterisch getönten Freimaurer herausbildet? Wenn ja, sind wir in der Folge durch unsere jeweilige esoterische maurerische Arbeit genügend gewappnet für die Ergebnisse der Selbstfindung?
Das uneingeschränkte Bekenntnis zum eigenen Selbst, nach seiner Präsentation, erscheint wie eine Chance und ein Risiko zugleich. Im geschützten Raum der Bruder-Kette, in der alle Maurer stehen, sind sie einer Selbstentsprechung näher als in jeder anderen Konstellation ihres bisherigen Lebens. Die Bruderkette erfährt ihre Nagelprobe in dem Moment, in dem die Authentizität ein extrem negatives Selbstbild ergibt. Dabei ist es nicht nur die versicherte Präsenz des Haltens und die Absicherung durch die Brüder, wie sie bereits während der Reisen der Initiation zugesagt wurden, die uns schützt. Das Gefühl der Erfahrung, wie aus der gemeinsamen Arbeit eine bis dahin nie gekannte Motivation und Kraft erwachsen kann, schafft in uns eine Empfindung der inneren Vollständigkeit und selbstbezogenen Sicherheit.
Gefahren lauern in dem Irrglauben Einzelner, diese erlebten und geschaffenen Räume, wie gut auch immer gemeint, therapeutisch nutzen zu sollen oder zu können. Psychotherapie hat in gleicher Weise, wie Religion keinen gestalterischen Platz auf dem Baugerüst des Tempels der Humanität.
Symbolisch übertragen findet sich die geschilderte Freimaurerei auch nicht in der Tragödie des einsamen Sisyphus Camus wieder. Einer sich ewig perpetuierenden Arbeit eines Frevlers, die darin besteht, seinen Stein immer wieder auf einen weiteren Gipfel unseres Daseins zu rollen und anschließend immer wieder hinabfallen zu lassen.
Die suizidale Absicht der Existentialisten, den Stein aktiv, unwiederbringlich ins Dunkel der Tiefe zu stoßen, ob der erlebten Realität der Sinnlosigkeit eines geprüften Daseins, sie kann und soll für Brüder Freimaurer keine Option des Handelns in ihrem Leben sein. Die Brüder erleben sich als Menschen, die die zuvor selbst verordnete Einsamkeit aufgeben und Lösungen für die grundsätzlichen Fragen des Daseins in einer Gemeinschaft, wie die der Loge, suchen. Der verzweifelt, bewusst herbeigeführte Suizid der dunklen Seite des Selbst wirkt wie eine letzte Metamorphose, ein Finale vergeblicher masonischer Mühen am rauen Stein. Ist das die umfassende Freiheit in einem selbstbestimmten Leben einer konsequent gelebten Kreatur?
Die Freimaurerloge, als Wertegemeinschaft und Übungsraum für den Prozess der Individuation, wirkt wie ein Dach der Sammlung und des Schutzes, unter dem sich geläutertes Leben mit den Werkzeugen der Einübungsethik erfahren und trainieren lässt.
Die Antwort: „Ich bin’s zufrieden“ erhält dabei eine tiefe, grundsätzliche Qualität auf die Frage nach dem Lohn (Zweck) des Daseins.
Wäre dann der esoterische Erlebnisraum doch so etwas wie eine höhere Erkenntnisstufe? Sie fällt einem allerdings nicht durch einen chamäleonartigen Wechsel nach Rot, mit einer perfekten Vermehrung der Inszenierungen in den diversen Hochgrad-Systemen, mit einer Flut diverser Orden und Titeln im Erlebnis burlesker Metaphern zu.
Sie vollzieht sich nach innen in eine ungleich größere Intimität, Bereitschaft und Offenheit für den anderen, ohne unser Dazutun, in einer von allen geschaffenen besseren Welt. „So mote it be“ bekräftigt den erfolgreichen Schritt aus einer immer weniger selbst verschuldeten Unmündigkeit in Richtung einer vorurteilsfreien Aufgeklärtheit über die Zusammenhänge der Welt.
Bedeutet letztlich mehr Wissen über die Zusammenhänge, auch weniger Schuld in dem Dickicht empfundener, archetypischer Verstrickungen? Einsicht als eine Voraussetzung für Nachsicht und Vergebung!
„Wir verlassen Sisyphus am Fuße seines Berges der Mühen. Seine Lasten finden wir überall in unserem Leben. Es lehrt uns eine höhere Treue, die die Götter leugnet und Felsen hebt. Dieses Universum, das nun keinen Herrn mehr kennt, kommt uns weder unfruchtbar noch wertlos vor. Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphus als einen glücklichen Menschen vorstellen!“, so endet Camus Essay über den Mythos des Sisyphus.
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